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Material zu den Fragen des Philomaten



FrageZur Frage ›Sprache 3‹
ErläuterungDas sprachliche Relativitätsprinzip
(Sapir-Whorf-Hypothese)

oder

Wie viele Wörter für Schnee kennt ein Inuit eigentlich?


An dieser Frage lässt sich eine Einheit zum Thema ›Sprachliche Relativität‹ aufziehen. Das sprachliche Relativitätsprinzip behauptet:

Die Sprachen dieser Welt haben nicht alle dieselben grammatikalischen Strukturen, um die Außenwelt einzufangen.

Gern gezogene Folgerungen aus diesem sprachlichen Relativitätsprinzip sind mindestens diese zwei:
1. Die Sprachen dieser Welt sind nichts bis ins Letzte ineinander übersetzbar, weil Strukturen der einen Sprache nicht ohne Bedeutungsverlust in andere Strukturen einer anderen Sprache aufgelöst werden können.
2. Da Sprache und Denken aufs Engste miteinander zusammenhängen, bestimmen die Strukturen ›meiner Sprache‹ auch die Strukturen ›meines Denkens‹. Da (m)eine Welt aber nur innerhalb meines Denkens als Welt erscheint, sind die Welten der Sprecher von grundverschiedenen Sprachen ebenfalls grundverschieden. (Die unterschiedliche Sprache bedingt eine unterschiedliche Wahrnehmung und damit eine unterschiedliche Welt.)

Das Prinzip der sprachlichen Relativität ist umstritten, auch deshalb, weil mit ihr im neo-romantischen Fahrwasser der Siebziger und Achtziger ideologisches Schindluder getrieben wurde. Dessen Konsequenzen reichen bis in die Gegenwart, etwa bis zum Mythos, die Inuit hätten 37 oder 92 oder 100 verschiedene Begriffe für Schnee. Weil das Prinzip umstritten ist und auch weil die Beseitigung von Mythen sich lohnt, findet sich viel ausgezeichnetes Material.

Für eine Übersicht etwa zur Sprache im Allgemeinen unbedingt empfehlenswert ist Chrystal, D.: Die Cambridge-Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt/M. New York: Campus, 1993. Das ist eine Enzyklopädie, die an Detailfülle kaum zu überbieten ist.

Spezielleres Material, auch zur Sapir-Whorf-These, findet sich in:
Funk-Kolleg »Der Mensch«, Anthropologie heute. Studienbrief 7, Studieneinheit 21: Volker Beeh: Was ich dir sagen will. Der Mensch und die Sprache. Tübingen 1993, Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen. Das Material dort ist didaktisch aufbereitet.
Das Verhältnis ›Sprache – Denken‹ wird besonders thematisiert in:
Franzen, W.: Die Sprache und das Denken. Zum Stand der Diskussion über den linguistischen Relativismus. In: Trabant, Jürgen (Hrsg.): Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie. Frankfurt/M. 1995, 249-268.
Hier findet sich auch ein sehr interessanter Hinweis, nicht auf die Hopi-Indianer, sondern auf die Chinesen. (Man muss für alles Weitere noch wissen: Lieblingsstudienobjekte der Vertreter des sprachlichen Relativitätsprinzips und auch von Benjamin Whorf waren und sind die Hopi-Indianer (und dann die Inuit und die Einwohner von Papua-Neuguinea). Da das Chinesische nicht über einen Konjunktiv verfügt (vgl. unbedingt Anmerkung nachfolgend!), könnte man vermuten, dass gemäß des Prinzips der sprachlichen Relativität Chinesen die schlechteren Kontrafaktiker sein müssten. Um sich hier zu vertiefen und um diese Vermutung zu widerlegen, ist bestens geeignet:
Bloom, A.: The linguistic shaping of thought: A study in the impact of language on thinking in China and the West. New Jersey: Hillsdale, 1981.
Die wichtige Anmerkung von oben findet sich hier: Die Behauptung, das Chinesische verfüge nicht über einen Konjunktiv, ist so nicht richtig und zugleich typisch für Behauptungen im Umfeld des Prinzips der sprachlichen Relativität. Richtig ist, dass der Konjunktiv im Chinesischen nicht über das Verb ausgedrückt wird, sondern über einen zusammengesetzten Satz (und weitere Kennzeichnungen).

Diese Richtigstellung soll nicht nur den oft fahrlässigen Umgang mit Behauptungen über andere Sprachen illustrieren, sondern auch die entscheidende Frage für das Zutreffen des sprachlichen Relativitätsprinzips auf den Punkt bringen. Diese Frage lautet: Wenn eine Sprache (z.B. das Chinesische) nicht über dieselbe grammatikalische Struktur verfügt wie eine andere (z.B. das Deutsche), fehlt dann das jeweilige sprachliche Element total oder gelingt es, in dieser Sprache die fehlende grammatikalische Struktur durch etwas anderes, durch etwas Analoges zu ersetzen oder zu umschreiben?

Wenig sorgsam bei der Betrachtung anderer Sprachen aus wissenschaftlicher Sicht war übrigens einer der Begründer des Prinzips der sprachlichen Relativität, nämlich Benjamin Whorf. Zu den Grobheiten, Verfälschungen und Unachtsamkeiten der Whorfschen Arbeit ist das Beste im Netz:
Neil Parr-Davies: The Sapir-Whorf Hypothesis: A Critique auf http://www.aber.ac.uk/media/Students/njp0001.html
Diese Quelle basiert auch auf: Pinker, Steven: The Language Instinct. Harmondsworth 1994. der mit seinen kritischen Untersuchungen eine ganze Debatte ins Rollen gebracht hat.

Zur Illustration der Sapir-Whorf-These wie auch der Mythenbildung eignet sich vorzüglich der Film:
Koyaanisqatsi. Film von Godfrey Reggio, USA 1983.
In diesem Film werden zwei Welten einander gegenüber gestellt: die eine, in jeder Hinsicht überdrehte, beschleunigte, irre, unnatürliche und entfremdete Welt der US-Amerikaner einerseits und eine hamonische, zeitenthobene, naturverbundene und ausbalancierte Welt (der Hopi-Indianer, so wird suggeriert) andererseits. Hopi-Indianer, so die Whorfsche Mähr, verfügten in ihrer Sprache angeblich nicht über ein Zeitkonzept wie andere, z.B. abendländische Sprachen. Die Konsequenzen dieses Fehlens sind im Film ›offenbar‹: Wer sprachlich keine Zeit kennt, der kann sie auch nicht beschleunigen und der lebt deshalb beschaulich, zeitlos, unangestrengt, vielleicht sogar: moralisch hochwertiger. Die Hopis haben es halt gut.

Ein Letztes: Die Behauptung, ein Inuit kenne eine ziemlich große Menge an Wörtern für Schnee, ist ein genauso großer Mythos wie die Zeitlosigkeit der Hopis wie der Hopi-Sprache. Am besten im Netz hat mir (WB) dazu gefallen
dieser Artikel, auch deshalb, weil man von dort weiterklicken kann. Sehr gut geeignet für eine oberflächliche und doch manchmal detaillierte Übersicht ist auch dieser NZZ-Artikel.
Links
»Sprachblog der UNI Bremen
»NZZ-Artikel zum Thema
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Aktualisiert: 06/12/2008

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